...Und nicht vergessen zu atmen!
Es ist schwül in der Reithalle. Vor Konzentration tropft mir der Schweiss in die Augen. Mir scheint es als schier unlösbare Aufgabe, alle Anweisungen meiner Reitlehrerin, in die Tat umzusetzen. Aber ich gebe mir Mühe. Sobald ich mich in den Sattel des gutmütigen Braunen gewuchtet habe, weist sie mich mit ruhiger, aber bestimmter Stimme an: Die rechte Schulter leicht nach hinten, die Steigbügel mit den Fussballen fixieren, in der Mitte des Sattels bleiben, das Becken leicht zurück kippen, nicht mit den Knien, sondern den Waden klammern, die Fersen an den Bauch halten, leichter Trab reiten, sich nur wenig erheben, nicht herab plumpsen, jetzt sitzen bleiben, und vergessen sie nicht zu atmen!
All das gleichzeitig umzusetzen ist Schwerarbeit. Es gelingt mir schon besser, als zu Beginn. Da baumelte ich wie ein Kartoffelsack von einer Seite zur andern. Ich konnte mich nur knapp im Sattel halten. Es gelang mir gar nichts. Einmal kippte ich nach vorne und blickte für eine Schrecksekunde über die linke Schulter des Hengstes in die Tiefe. Entsetzt wich ich zurück. Da gings runter, da wollte ich auf keinen Fall hin.
Heute findet das «später» statt, mit dem ich meinen langehegten Traum vor mir hergeschoben habe. Schon als junges Mädchen liebte ich das Reiten und war entzückt, ja völlig entrückt, sobald ich auf einem Pferd sass. Von da oben war die Welt eine andere. Das Gefühl des kraftvollen Tierleibes unter mir, gab mir eine innere Ruhe. Ich wollte wie eine Nomadin durch die Prärie ziehen. Ich wollte mit ihm auf eine Reise gehen, die, wo immer sie mich hinführte, für mich spannend war. Es bedeutete mir alles. Das war mein Element und das, nach dem ich gesucht hatte. Doch die Möglichkeiten waren dürftig. Zum einen war der Reithof weit entfernt, zum andern konnten sich meine Eltern die Lektionen nicht leisten, und wenn, dann nur ausnahmsweise, für eine Saison. Danach musste ich es können, oder es selbst berappen. Man riet mir, es mit Stall-Ausmisten abzugelten, aber die Besitzer winkten ab. Sie hatten bereits genug flinke Helferinnen.
Und was geschah? Mit der Pubertät verlor ich das Ziel aus den Augen. Das Zusammensein mit Freunden wurde mir wichtiger, oder der Besuch des Jugendhauses, oder mich beschäftigte die Liebe, oder ich war unglücklich, oder alles zusammen. Ab und an kehrten meine Gedanken zum Reiten zurück, die Idee war vorhanden, aber das Leben kam dazwischen. Erst mal die Ausbildung bewältigen, dann die Karriere anschieben, dann die Kinder grossziehen und dann die Work-Life-Balance austarieren. Alles ging einfach nicht, und ich schob es auf später.
Dieses «später» ist jetzt! Ich sitze endlich im Sattel. Von meinem früheren Können kann ich nur träumen. Ich kenne zwar das Gefühl, mit einem Pferd durchs Feld zu reiten und mit ihm im Galopp davon zu preschen. Doch von der Ausführung bin ich noch Lichtjahre entfernt. Vorerst wird mein Schulpferd von der Lehrerin im Kreis geführt. Manchmal frage ich mich, wie die anderen Reitenden das hinbekommen? Sie wirken, als würden sie am Sattel kleben. Dagegen spicke ich mal dahin und dorthin. Wahrscheinlich habe ich die Muskeln nicht dort, wo sie gebraucht werden oder es sind zu wenige, oder ich verkrampfe mich zu sehr. Du brauchst Geduld, ermahne ich mich wieder und wieder. Es ist noch keine Meisterin vom Himmel gefallen. Früher oder später werde ich es schaffen. Und tatsächlich, nach der vierten Lektion, oder war es die fünfte, bewegte ich mich beim Englisch Trab für einen Augenblick im Rhythmus des Pferdes. Das war es! Dieses umwerfende Gefühl mit dem Tier eine Einheit zu bilden. Daran arbeite ich weiter.