Keiner kommt ungeschoren davon

Bei der Räumung der elterlichen Wohnung fanden wir einen Stapel alter Briefe. Einer davon ist mir besonders aufgefallen. Er wurde in sauberer, schöner Handschrift abgefasst. Die regelmässig geschwungenen Buchstaben, vom Alter etwas verblasst, wirken auf dem blauen Papier fast zart. Nichts lässt auf die groben Hände des Schlossermeisters schliessen, der sie geschrieben hatte. Die Einteilung von Datum, Anrede und Schlusswort waren perfekt. Nicht nur die harmonische Anordnung, auch der Text war ausgewogen und abgerundet. Hier wurde erklärt, dass die Resi vermisst wird, dass er viel an sie gedacht hatte und er fragt, ob es ihr ähnlich ergangen sei, seit sie sich das letzte Mal gesehen hätten. Er hofft, dass sie sich bald wiedersehen würden. Obwohl ich nicht angesprochen bin, macht mein Herz einen kleinen Freundsprung. Bestätigt es, doch was ich immer vermutete und es erfüllt mich mit Glücksgefühl.

Liebe. Hoffnung. Bangen. Vermissen. Wiedersehensfreude. All das hatte also auch er, dieser steife Macho erlebt. Ungewöhnlich ist es nicht, denn wahrscheinlich hat das jeder von uns schon erfahren. Es sind ja nicht unsere Rechte, die uns alle gleich machen. Es ist die Liebe. Sie macht uns glücklich oder traurig, versetzt Berge oder zerstört Träume, ja ganze Existenzen. Liebe bewirkt so vieles, sogar Kriege sollen deshalb geführt worden sein. «Natürlich!», ist man versucht zu sagen. Denn jeder dem schon mal Liebe widerfahren ist, weiss um deren Urgewalt, aber auch um ihre Schönheit. Wie es einem widerfährt, ist, denke ich individuell. Von allen Ansätzen dieses Gefühl der Zuneigung und des Glücks zu erklären, gefällt mir die Folgende am besten: Jede und jeder begegnet im Laufe seines Lebens mindestens einem potentiellen Liebespartner, Männlein oder Weiblein, in den man sich verliebt und mit dem man das Leben teilen will. Andere sehen es auch als fehlende Hälfte zur eigenen Person an, um dann miteinander ein Ganzes zu bilden. Dieses Wesen zu erkennen fällt oft leicht. Meisten sticht sie einem gleich ins Auge. Doch zeigt sich erst nach der Verliebtheitsphase, ob man zusammen bleiben will. Gemeinsame Interessen können hilfreich sein, zukünftige Ziele zu finden, bei denen sich beide wohlfühlen, oder so... Und genau dieses «oder so» ist meist der lustlose Teil daran. Denn es verlangt von uns, die Herausforderung des Alltags zu bewältigen, die Feierabendlaunen des Gegenübers auszuhalten, die erwünschten «glücklich verbrachten» Ferien, der Realität anzupassen, den Haushalt zu organisieren und sich wirtschaftlich zusammenzuraufen.

So ist das Leben, keiner kommt da ungeschoren davon. Auch der Verliebteste kann nicht über Jahre hinaus darüber wegsehen. Wer es trotzdem tut, muss sich nicht wundern, wenn er eines Tages böse erwacht. Im Fall des Verfassers des Liebesbriefes, bedeutete das, mit der Liebsten zusammen eine Familie gegründet zu haben und dazu einen Ein-Mann-Betrieb aufgebaut zu haben. Was beide mit jugendlichem Elan und viel Optimismus begannen, hielt sie Jahr für Jahr mit Hängen und Würgen über Wasser. Auf die Dauer wurde die Belastung zum Abnutzungskrieg mit dem Leben und mit ihrer Liebe. Nach dreiundzwanzig Jahren kam mit dem Aus in der Ehe, auch das Ende für den Betrieb. Umso mehr freuen mich die Zeilen meines Vaters. Zeigt es doch, dass die zwei nur die besten Absichten hatten und sich von ganzem Herzen geliebt hatten. Der Rest ist Geschichte.